Podiumsdiskussion

veröffentlicht am: 28.11.2022

Novembertage: Nachlese zur Podiumsdiskussion über den heutigen Antisemitismus

Die Zwickauer Ratsschulbibliothek war im Rahmen der Novembertage Zwickau am Dienstag, dem 15. November Gastgeber einer spannenden Podiumsdiskussion die durch den Arbeitskreis Bibelausstellung, die jüdische Gemeinde Chemnitz, den Landesverband Sachsen der jüdischen Gemeinde K.d.ö.R. sowie der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Zwickau e.V. veranstaltet wurde.

Im Podium saßen Dr. Lutz Mahnke (Leiter der Ratsschulbibliothek, Dr. Ruth Röcher (Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Chemnitz) sowie Gabriele Atanassow (Dresdener Projekt „Klug gegen Antisemitismus). Thema der Diskussion, deren Moderation Dr. Edmund Käbisch (Pfarrer i.R.) übernahm, lautete „Die Zwickauer Tora überlebte den Holocaust – Das jüdische Leben in Sachsen und der bestehende Antisemitismus“. Der Hintergrund ist aktueller denn je, denn das Thema Antisemitismus ist keineswegs eines, das nur in der Zeit des Dritten Reiches zu verorten ist. Eine Studie der Berthelsmann-Stiftung besagt, dass 49 Prozent der Deutschen Antisemitismus in sich tragen. Antisemitismus sei ein gesamtgesellschaftliches Problem, das es in allen Schichten und Milieus gebe. Dem gilt es in der Zivilgesellschaft entgegenzuwirken.

 

Dr. Lutz Mahnke schilderte zunächst, was es mit der Zwickauer Tora auf sich hatte: In der Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938 wurden auch die Zwickauer Synagogen angezündet und brannten aus. Am 12. November kippte man die restlichen Gegenstände der Synagoge als Schutt auf dem SA-Sportplatz an der Crimmitschauer Straße (heute Feuerwehr Zwickau) ab. Dort entdeckten Schüler des Zwickauer Gymnasiums, die bis ca. 11 Uhr an einem Schulausflug ins Museum teilnahmen, die teilweise verkohlte Torarolle, die in drei Stücke zerrissen war. Sie brachten diese ins Museum, ohne zu wissen, welche religiöse Bedeutung diese Pergamentrolle für das Judentum besaß. Der Direktor des Museums nahm sie entgegen, wickelte sie in Packpapier, schrieb darauf „Juden-Bibel“ und versteckte sie im Handschriftenzimmer der Ratsschulbibliothek. Der Arbeitskreis Bibelausstellung, der 2002 für die Burg Schönfels eine Schau organisierte, fragte im Vorfeld auch in der Ratsschulbibliothek an, um wertvolle Bibeln aus dem Bestand der Bibliothek für die Schau zu entleihen. In Vorbereitung der Ausstellung fand Dr. Mahnke einen Bericht des Rektors der Lateinschule vom 19.11.1938 zu diesem Ereignis. Erst da wurde klar, dass es sich bei den Pergamentrollen um die Zwickauer Tora handelte.  Er gab sie als Leihgabe mit auf die Burg. Später wurde die Tora am 22. Juni 2003 in einem Festakt im Zwickauer Museum der jüdischen Gemeinde Chemnitz übergeben. Ein für Sachsen einmaliger Akt.

 

Dr. Röcher informierte über die aktuelle Situation ihrer Chemnitzer Gemeinde, die offen, vielfältige und lebendig sei. Ca. 600 Juden haben sich eingetragen. Die jüdischen Gläubigen stammen fast alle aus der ehemaligen Sowjetunion, aber viele haben sich nicht registrieren lassen. Deren Zahl sei nicht bekannt. Sie wollen in der Gesellschaft nicht erkannt werden und anonym bleiben. Sie haben Angst und befürchten Hass und Diskriminierung. In der Gemeinde gäbe es Spannungen und Konflikte zwischen den Juden, die ihre Wurzeln in Russland oder der Ukraine haben. In Deutschland gäbe es orthodoxe, konservative und liberale jüdische Gemeinden. Die Chemnitzer Gemeinde sei konservativ geprägt. Für die Bezahlung des Rabbiners muss sie selbst aufkommen. 
Ein großes Problem besteht seit dem Brandanschlag in Halle. Die Synagogen muss aus Sicherheitsgründen umgebaute werden. Es läge eine Konzeption des Staatsschutzes vor. So müssten am Gebäude u.a. alle Türen und Fenster durch neue ersetzt werden. Aus der Synagoge werde eine Art Sicherheitstrakt entstehen. Etliche fühlten sich damit in ihren Freiheiten eingeengt, aber die Mehrheit würde sich damit sicherer fühlen. Diese Baumaßnahmen werden sich über Jahre hinziehen und Gottesdienste könnten nicht stattfinden. Die Baukosten übernehme der Freistaat. Ebenso werde es auch mit dem Friedhof geschehen, weil dort ebenfalls Gottesdienste und jüdische Rituale stattfinden. Das ganze Gelände müsse mit einer über zwei Meter hohen und festen Mauer eingezäunt werden.

Frau Atanassow berichtete von der Arbeit des Projektes „Klug gegen Antisemitismus“. Das Thema Antisemitismus sei ein fester Bestandteil der Weiterbildung in der sächsischen Polizeiausbildung. Die Auszubildenden sollen sensibilisiert werden für die lebendige Vielfalt des Judentums in Deutschland. Dieses muss bewahrt und geschützt werden. Bei der Arbeit mit Jugendlichen sei besonders die Botschaft wichtig: „Vergesst uns nicht und das was mit uns passiert ist! Steht auf gegen Ungerechtigkeit! Handelt, bevor es zu spät ist, denn, wenn die Diktatur da ist, ist es zu spät.“  

Die Entwicklung der Gegenwart belehrt, jüdische Gedenkstätten und Erinnerungsorte werden regelmäßig geschändet. Frau Atanassow führt einige Beispiele aus Sachsen auf.

  • In der Zeit von 2014 bis 2019 seien sachsenweit 712 antisemitistische Vorfälle erfasst worden.
  • 2021 habe die sächsische Polizei 189 antisemitistische Straftaten gezählt, z.B. Symbole, Volksverhetzung, Sachbeschädigungen, Beleidigungen, Bedrohungen, Hasspostings, Relativierung oder Leugnung der Shoah, Hakenkreuze auf Mauern oder Fußböden...
  • Am 30. September 2022 wurde vor dem jüdischen Friedhof in Chemnitz auf dem Asphalt eine unbekannte Flüssigkeit verschüttet, Hakenkreuze und das Wort „Nazi“ gemalt.
  • Am 13. Februar 2022 wurde in Dresden ein Transparent mit der Aufschrift „Bombenholocaust“ währen des Gedenkens an die Zerstörung der Stadt im Jahr 1945 getragen. Darauf war der Schriftzug zu lesen: „Ihr nennt es Befreiung. Wir nennen es Massenmord.“
  • Man sieht immer wieder bei Demonstrationen der Coronagegner den „Gelben Stern“ mit der Aufschrift „Ungeimpft“ als Armbinde oder auf T-Shirts.
  • Am 7. März 2022 trug eine Teilnehmerin ein Schild in Dresden auf einer Anticoronamaßnahmen-Demonstration: „Stop Corona Gentherapie und die Macht der Eliten Rothschilds, Rockefellers, Soros & Consorten“. Ohne das Wort Jude zu benutzen, wurde ein Verschwörungsmythos verbreitet, dass diese jüdischen Familien für das Pandemiegeschehen verantwortlich seien und Rockefellers wie Marionette an den Strippen jüdischer, geheimer und mächtigen Eliten hängen.

Über die Tora-Rolle entwickelten sich in Zwickau und Umland interreligiöse Veranstaltungen mit Juden, Muslime und Christen. Seit 2017 fanden u.a. Podiumsdiskussionen in Schulen und Hochschule zum Thema „Frauen in den drei Buchreligionen Judentum, Christentum, Islam“ statt. 2020 konnte sogar eine Fortbildungsveranstaltung für Lehrkräfte der Fächer Ethik, Religion, Gemeinschaftskunde und Deutsch durchgeführt werden, die deutschlandweit einmalig war.

 

 

Gabriele Atanassow, Dr. Ruth Röcher, Dr. Lutz Mahnke, Dr. Edmund Käbisch, Detlev Hoffmann (v.r.n.l.))
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